28. September 2011

Frankreich. Ein kleines Mädchen stirbt durch einen Fußtritt

"Verschiedenes [!]. Der Tod klopft an die Tür der Schule [!]"
FAITS-DIVERS. SOYAUX: LA MORT FRAPPE À L'ÉCOLE
Par Ismaël Karroum [!], Charente libre, 28 septembre 2011

Sechs Jahre nach dem Fußtritt erfährt man, daß die Familie noch am selben Abend getürmt ist, daß sie Sprach- und finanzielle Schwierigkeiten hatte, der Junge nicht versichert war, und die Gemeinde sitzenbleibt auf dem Schmerzensgeld, das den Eltern des Mädchens bezahlt wurde.

In meiner Provinzzeitung L'indépendant ist auf Seite 14, unter Société, Gesellschaft, ein Artikel zu lesen mit der Überschrift Une fillette meurt d'un coup de pied. Ein kleines Mädchen stirbt an einem Fußtritt. Da ich den Artikel online nicht finde, gebe ich bei Google.fr ein "une fillette meurt" und bekomme die entsetzlichsten Todesarten nach Schwerpunkten serviert: vergessen (1 840 000 Angebote), vergessen in einem Auto (3 890 000 Angebote), erstickt von der Python der Familie (43 000 Angebote). "Une fillette meurt d'un coup" bringt 4 750 000 Angebote, L'Indépendant ist nicht auf den ersten Seiten. L'Alsace.fr titelt: Une fillette meurt d'un coup de pied au thorax porté par un camarade. "Ein kleines Mädchen stirbt durch einen Fußtritt eines Mitschülers in den Brustkorb."

Update, vom 29. September 2011: Mit jeder verstreichenden Stunde wird die Tat des neunjährigen Jungen, des "Aggressors", mehr zum Drama, zu dem niemand etwas kann. Der Bürgermeister, Arzt für Allgemeinmedizin, weiß, daß der Tod nicht herrühren kann von dem Fußtritt. Der Name des Mädchens ist Tylane. Wie der Junge heißt? Man darf raten: Entweder heißt er Mohammed und ist Muslim, oder François, und er ist der Sohn einer bekannten Persönlichkeit des Ortes.

Während France Soir nicht einmal den Vornamen des Opfers korrekt schreibt, macht sich das Blatt große Sorgen um den Täter: Que risque l'agresseur ? Was steht für den Angreifer auf dem Spiel?

Text, vom 28. September 2011: In Soyaux, einem Ort im Großraum von Angoulême, Department Charente, stehen die Schüler in der Kantine in Zweierreihen an fürs Mittagessen. Es kommt zu einer Rangelei: La petite fille a reçu un coup de pied au thorax porté par un garçon de neuf ans, à la suite semble-t-il d'une bousculade dont il l'aurait rendue responsable, selon le procureur d'Angoulême, Nicolas Jacquet. Das kleine Mädchen hat einen von einem neunjährigen Jungen ausgeführten Fußtritt in den Brustkorb erhalten in Folge, wie es scheint, einer Rangelei, für die er es verantwortlich gemacht hätte, nach Aussage des Staatsanwalts von Angoulême Nicolas Jacquet. Das zehnjährige Mädchen, seine Klassenkameradin, stirbt auf der Stelle.

Soweit ist das alles schlimm genug, sollte man meinen, aber jetzt geht's erst richtig los. Die mit dem Fall befaßten Gesetzeshüter und der Bürgermeister der Stadt François Nebout, von der politischen Richtung Divers droite, parteilose Rechte, halten den Fußtritt für absolut harmlos, "C'est un contact assez anodin", das ist ein absolut harmloser Kontakt zwischen Schülern. Sie wissen nicht, wieso ein Kind davon sterben kann. François Nebout ist von Beruf Arzt für Allgemeinmedizin.

Ein Junge tritt einem etwa gleichaltrigen Mädchen in den Brustkorb, und das ist in Soyaux alltäglich, davon stirbt man nicht, und wenn doch, ist's "ein dramatischer Unfall", verbunden mit einem reflexartigen Schlag, "un coup-réflexe" eines Jungen, der die Folgen davon nicht gewollt habe. Die Schuld daran wird dem toten Mädchen gegeben, der Junge wird von seinen Lehrern als "tout à fait calme", völlig ruhig, geschildert, mit seiner Disziplin habe es bislang keine Probleme gegeben.

Die Äußerungen des Staatsanwalts künden vom Rechtsverständnis französischer Juristen. Noch bevor die Untersuchung angefangen hat, weiß er, daß der Täter nichts dazu kann. In Frankreich tritt ein Junge ein Mädchen - nein, nicht ans Schienbein, nein, nicht in den Hintern, sondern in den Brustkorb, und an dieser alltäglichen Sache stirbt doch das Mädchen! Es ist ein Drama, an dem der jüngere Bruder des Mädchens als Augenzeuge anwesend ist.

Inzwischen ist der Fall in den nationalen MSM angekommen, das tote Mädchen ist in Bordeaux obduziert worden, und Libération titelt: La cause du décès de la fillette morte après un coup de pied reste inconnue. Die Ursache des Todes des nach einem Fußtritt gestorbenen Mädchens bleibt unbekannt, traumatische Verletzungen seien nicht zu erkennen, auch keine makroskopische Herzverformung, der Staatsanwalt schließt aber nicht aus, daß es zu einem Herzstillstand gekommen sei, es handele sich um eine "mort-réflexe", wie die Spezialisten sagen, einen reflexartigen Tod.

Na, dann können alle beruhigt sein, es ist der Schreck! Die Frage, was einen Jungen bewegt, ein gleichaltriges Mädchen in den Brustkorb (!) zu treten, braucht nicht gestellt und beantwortet zu werden. Nimmt man an, das Mädchen sei kleiner gewesen als der Junge, bleibt die Frage, wieso dieser sein Bein gegen ein kleineres Mädchen erhebt und zutritt. Ist das Mädchen größer gewesen, muß der Junge sein Bein noch höher gerissen und noch mehr Kraft aufgewendet haben. Hat sich aber das Mädchen in dem Augenblick gebückt, so bleibt die Frage, wie ein Junge auf ein eben wehrloses Mädchen eintreten kann.

Das Foto (oben, links) zeigt einen der verschiedenen Fußtritte beim Kungfu. Es ist unterschrieben: Petit coup de pied circulaire puissant de frank, heureusement qu’on a des paos lol. Kleiner kräftiger gedrehter Fußtritt von Frank, glücklicherweise hat man die Pao, die Langfäuste, lol. Man sieht, daß der getretene Kungfu-Gegner sich mit einer dicken Matte schützt.

Kungfu ist der Alltag in Soyaux?

Inzwischen haben auch die Überschriften in den französischen Medien sich diesem Alltag angepaßt. Sie lauten nicht mehr: Une fillette meurt d'un coup de pied. Ein kleines Mädchen stirbt an einem Fußtritt, sondern Une fillette meurt après un coup de pied. Ein kleines Mädchen stirbt nach einem Fußtritt. Der hat nun nichts mehr zu tun mit dessen Tod. Unter der ursprünglichen Überschrift hat Google.fr nichts mehr im Angebot.

Von Eugen Sorgs Buch über die Lust am Bösen haben diese Leute noch nichts vernommen. Es sollte schleunigst ins Französische übersetzt werden, damit wenigstens Grundkenntnisse über die Beweggründe von Menschen unters Volk und vor allem unter die Staatsdiener gelangen.