23. Januar 2012

Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie. Kritik einer Rezension

Linke Wissenschaftler erkennt man immer sofort. Ich behaupte ungeschützt, daß Privatdozent Dr. Frank Bajohr, von der Forschungsstelle Zeitgeschichte in Hamburg, ein solcher ist. Linke Wissenschaftler zeichnen sich aus durch die Geringschätzung der Möglichkeiten des Individuums, die Überhöhung der Rolle des Kollektivs und die von Jean-Jacques Rousseau entlehnte Fehleinschätzung der guten Natur und der bösen Gesellschaft. Ich kenne es aus eigener Erfahrung; ich war viele Jahre links.

Frank Bajohr demonstriert all das in seiner Rezension Heinrich Himmlers Weg zum Massenmörder, vom 3. Oktober 2008. Wie auf  Adolf Eichmann trifft auch auf Heinrich Himmler "das vielzitierte Wort von der 'Banalität des Bösen'" nicht zu, im Gegenteil, von Banalität kann keine Rede sein.

Weder die Persönlichkeit noch die Taten Heinrich Himmlers sind banal, aber wenn Hannah Arendt solches von solchen behauptet, dann muß es ja stimmen, dann bedarf es keiner eigenen Analyse mehr. Linke Wissenschaftler kauen in Ehrfurcht alles wieder, und es ist ihnen ganz selbstverständlich, daß sie ihre eigenen Ansichten, ohne sie zu begründen, an die Stelle derjenigen des rezensierten Autors setzen, noch bevor sie ein Wort über den Inhalt des Buches verloren haben: "Wer den Schlüssel zum Massenmörder Himmler sucht, kommt an Struktur und Ideologie des 'Führerstaates' nicht vorbei, die Heinrich Himmler einerseits repräsentierte und aus Überzeugung vertrat, denen er sich andererseits jedoch flexibel und sehr geschmeidig anverwandelte." Hugh, ich habe gesprochen!

Peter Longerich behauptet nichts Gegenteiliges, aber das spielt für den Rezensenten keine Rolle. Er schreibt im "Prolog" über "die Einsicht, dass die einzelnen Politikfelder in Himmlers Verantwortungsbereich viel stärker miteinander verwoben waren, als man gemeinhin annimmt. Es ergeben sich zudem überraschende zeitliche Koinzidenzen, die in der Forschung so bisher nicht gesehen wurden." (Seite 10)

Ich stoße auf die Himmler-Biographie von Peter Longerich, als ich mich mit dem vom Reichsführer-SS am 12. Dezember 1935 gegründeten Lebensborn e.V. befasse, dazu einiges lese, u.a. das Standardwerk von Georg Lilienthal und von Dorothee Schmitz-Köster: "Deutsche Mutter, bist du bereit ...", und staunend feststelle, daß das ganze Projekt als eine Rechtfertigung seines Lebenswandels angesehen werden kann. Von Peter Longerichs Biographie verspreche ich mir Aufklärung darüber, ob solches überhaupt sein kann. Tatsächlich wird dieser Verdacht ab Seite 381 der Biographie, was den Lebensborn e.V. angeht, erhärtet. Die SS als Männerbund, "Gefährdung der Jugend durch die Homosexualität - Tolerierung von sexuellen Beziehungen zwischen unverheirateten jungen Menschen - Akzeptanz der unehelichen Geburt - frühe Eheschließung. Himmler befand sich offensichtlich in diesem Zeitraum in einer Phase, in der er eine Art Abrechnung mit seiner früheren Einstellung zum Thema Sexualität und Männlichkeit vollzog." Die Eintragungen in ein ab Herbst 1937 von der acht Jahre älteren Ehefrau geführtes Tagebuch erhärten dieses Forschungsergebnis. (Seite 386)

Vor dem Sachverständigenausschuß für Bevölkerungspolitik erklärt er, am 15. Juni 1937, ihm sei "absolut klar, dass das deutsche Volk sexuell absolut in Unordnung ist, dass wir in unserem Volke die größten Spannungen, die es überhaupt geben kann, auf diesem Gebiet haben, und wir müssen uns darüber klar sein: wenn ein Volk in seinen allernatürlichsten Lebensgesetzen [...] nicht in Ordnung ist, so ist das für das Ganze Dynamit." (Seite 388)

Jetzt muß der Reichsführer-SS das nur noch dem deutschen Volk verklickern.

Frank Bajohr, der nicht umhin kann, von der Arbeit des Peter Longerich beeindruckt zu sein, muß aber als ordentlicher Linker sofort seine Interpretation anbringen und mitteilen, wie er das Buch geschrieben hätte, nämlich so: "Jede biografische Annäherung muss deshalb über die Person Heinrich Himmlers weit hinausgehen, ohne ihn jedoch als beliebig austauschbare Marionette zu behandeln. Dem Spannungsfeld von Biografie und Struktur ist sich Peter Longerich bewusst, wenngleich er beides nicht immer ausgewogen behandelt."

Selbstverständlich bestimmt der Rezensent ohne Angabe von Gründen, was ausgewogen ist. Peter Longerich findet aber gerade heraus, daß die Biographie des Heinrich Himmler in seinen Aktivitäten aller Art sowie in den Strukturen des nationalsozialistischen Staates aufgeht, daß der private und der öffentliche Heinrich Himmler miteinander verschmelzen: "Je mehr Himmler seine persönlichen Maximen auf die Führung der SS übertrug, je stärker er mit seinem Amt verwuchs, desto mehr verschwand denn auch die private Person hinter der Funktion als Reichsführer-SS. Während wir über den privaten Himmler bis zum Beginn der dreißiger Jahre aus unterschiedlichen Quellen (vor allem aus Tagebüchern und Briefen) relativ gut informiert sind, werden solche persönlichen Dokumente mit der zunehmenden Machtfülle und wachsenden dienstlichen Beanspruchung des Reichsführers-SS immer seltener; so etwas wie ein Privatleben hatte Himmler kaum mehr." Die rein biographische Methode stoße "im Falle Himmlers spätestens Mitte der dreißiger Jahre an ihre Grenzen." Und zu "Biografie und Struktur" des Frank Bajohr weiß Peter Longerich: "Die Geschichte des Nationalsozialismus lässt sich nun einmal nicht auf die sich überkreuzenden Lebensläufe einiger führender Nazis reduzieren." (Seite 12)

Das habe ich schon beim Lebensborn e.V. gesehen. Ich habe sofort den Verdacht gehegt, daß es den nur gab, weil der Reichsführer-SS damit sein privates Verhalten rechtfertigen wollte. Die Biographie von Peter Longerich gibt dazu eine Fülle von Informationen. Was Frank Bajohr moniert, ist es gerade, was Peter Longerich herausgefunden und belegt hat.

Linke aber können einfach nichts anfangen mit Individuen. Es muß unbedingt ein Kollektiv ihnen vorgesetzt sein, das die Richtlinien bestimmt. Der Autor bestreitet aber gar nicht, daß der Nationalsozialismus nicht nur die Summe der ihn verkörpernden Führungskräfte ist, sondern er zeigt, wie weitgehend die Persönlichkeit Heinrich Himmler das System bestimmt hat.

Einzelne Formulierungen der Rezension zeigen, wie wenig genau es der Rezensent nimmt, der bereits im zweiten Absatz seiner Rezension mit Kritik ansetzt, da hat der Leser noch nichts vom Inhalt präsentiert bekommen: "Weder seine Machtstellung im 'Dritten Reich' noch die Monströsität seiner Verbrechen lassen sich auch nur entfernt aus Himmlers Persönlichkeit oder spezifischen Eigenschaften ableiten." Wer hätte das geahnt! Wie er die Geschichte verdreht: "Nichts weist in den ersten 20 Lebensjahren auf die spätere Karriere Himmlers als Massenmörder und Reichsführer SS hin." Er ist zuerst Reichsführer-SS und wird dann zum Massenmörder. Entgegen den Gesetzen der Mathematik ist hier die Reihenfolge der Summanden nicht beliebig.

Mit dem Notabitur ist es ähnlich. Der Rezensent schreibt: "Dessen Ende [WWI] 1918 erlebte er im Gefühl des Zuspätgekommenen: als damals 18jähriger Offiziersanwärter, der sich um seinen Fronteinsatz betrogen fühlte. Dennoch entwickelte sich Himmler, der nach dem Notabitur Agrarwissenschaften studierte, nicht sofort zum Rechtsradikalen, sondern blieb zunächst gläubiger Katholik und Anhänger der katholisch-konservativen Bayerischen Volkspartei." Er vertauscht die Reihenfolge. (*) Ein solches Notabitur legen kriegsbegeisterte junge Männer ab, um dann gleich einzurücken. Heinrich Himmler macht das Notabitur, dann ist er Offiziersanwärter, und danach, nach dem Ersten Weltkrieg, studiert er Agrarwissenschaften. Ich hab's in Peter Longerichs Biographie noch nicht gelesen, aber ich wette, daß es so ist. Man kann über das Notabitur bei Wiki erfahren, googlen hilft manchmal.

(*) Tatsächlich hat Frank Bajohr nicht die Reihenfolge vertauscht. Heinrich Himmler legt aber nach sieben Gymnasialklassen und sechsmonatiger "Sonderklasse für Kriegsteilnehmer" kein Notabitur ab, sondern ihm wird im Juli 1919, nachdem er sich seit Kriegsende aufs Abitur vorbereitet, nach Sonderregelungen "das Zeugnis der Hochschulreife, ohne sich je der eigentlichen Abiturprüfung unterziehen zu müssen", überreicht. (Seite 32-34) (Korrektur, vom 24. Januar 2012)

Der Rezensent schreibt: "Erst das dauerhafte Spannungsverhältnis zwischen der NSDAP-Führung und der SA ebnete Heinrich Himmler und den Schutzstaffeln den Weg, die sich erfolgreich als loyal und zugleich elitär von der rabaukenhaften Konkurrenz abgrenzten." Er würdigt nicht die Rolle der SS bei der Zerschlagung der SA. Heinrich Himmler selbst ebnet diesen Weg, seine SS spielt die Hauptrolle. Die NSDAP will bei Geldgebern und im Volke salonfähig werden und da sind die Rabauken von Röhm hinderlich. Außerdem droht dem Führungsanspruch Adolf Hitlers durch die SA Gefahr, ob ihre Führung loyal bleibt, weiß man nicht. Das habe ich schon vor Jahrzehnten so gelesen.

Warum der Aufstieg Heinrich Himmlers "rätselhaft" ist, erklärt der Rezensent nicht. Anstatt sich am Inhalt der Biographie zu orientieren, breitet Frank Bajohr seine eigenen Ansichten aus, eben so, wie er das Buch geschrieben hätte. Daran mißt er das Ergebnis und urteilt über die von ihm ausgemachten Schwächen des Buches. So meint er, Peter Longerich bei einem Widerspruch angetroffen zu haben, was die Rolle des Ersten und des Zweiten Mannes in Deutschland anging, die "einmalige Machtposition". Heinrich Himmler erreicht diese "einmalige Machtposition" gerade deshalb, weil er seinem Führer und dem deutschen Volk zeigt, daß seine Macht abgeleitet ist. Der Reichsführer-SS wird so als Zweiter Mann zum Ersten Mann. Die von ihm geformte Schutzstaffel umgibt ihn, er ist unangreifbar. Im Gegensatz zu ihm hat Adolf Hitler diese "einmalige Machtposition" nicht, sondern er ist bis zum Ende abhängig von sehr vielen Machthabern in seinem Reiche.

Daß der Reichsführer-SS ein mögliches Angstgefühl gegenüber Adolf Hitler nicht durch Kraftanstrengung, sondern durch Unterwerfung meistert, genau das gibt ihm die Stärke. Das interpretiert Frank Bajohr als "divergierende Einschätzungen". Zum Schluß haut er ihm noch einen sechs Seiten langen "eher banalen Prolog" und "eine knappe Zusammenfassung", sie umfaßt etwas mehr als elf Seiten und ein Foto, als dürftig um die Ohren. Ein ordentlicher Linker hätte seinen Lesern im "Prolog" mitgeteilt, worauf sie zu achten haben, er hätte sie nicht sich selbst überlassen, sondern sie über 1000 Seiten an die Hand genommen, nicht mit "länglichen Geschichten der SS unter besonderer Berücksichtigung ihres 'Reichsführers'" gelangweilt, sondern seine Interpretation dieser Geschichten dargeboten, so wie Wissenschaft und Massenmedien es heuer zu tun pflegen. In der Zusammenfassung, von Peter Longerich "Bilanz" genannt, hätte er noch einmal nachgelegt, um zu gewährleisten, daß die Nachricht auch wirklich angekommen ist: Der einzelne kann nicht viel bewirken, dem Kollektiv, der Partei kommt die zentrale Rolle zu, das Böse ist "banal", der Aufstieg "rätselhaft". Letztlich können wir nichts wissen, es sei denn, Wissenschaftler wie Frank Bajohr sind uns behilflich.